Studienleiterin Prof. Dr. Eghbalpour im Interview
Anlässlich der Paralympischen Spiele 2024 in Paris haben Sie gemeinsam mit der Aktion Mensch ein Forschungsprojekt durchgeführt. Sie haben untersucht, welchen Einfluss ein solches Sportgroßereignis auf Menschen mit Behinderung und auf die gesellschaftliche Wahrnehmung dieser Menschen hat. Wie sind Sie vorgegangen und was haben Sie herausgefunden?
Für unsere Untersuchung haben wir sowohl paralympische Athlet*innen als auch Menschen aus der Bevölkerung befragt. Weiterhin wurde eine Gruppe von Menschen mit Beeinträchtigungen befragt, da ansonsten Menschen mit Beeinträchtigung nicht angemessen repräsentativ vertreten worden wären. Die Rückläufe waren sehr gut, sodass wir am Ende ein repräsentatives Ergebnis hatten. Das hat mich sehr positiv überrascht.
Die erhobenen Daten spiegeln deutlich den Stand der Inklusion in unserer Gesellschaft wider. Dabei muss man zwischen einer Innen- und einer Außenperspektive unterscheiden.
Die Innenperspektive beschreibt die Wahrnehmung der Parasportler*innen selbst. Hier zeigte sich: Sie fühlen sich nicht ausreichend wahrgenommen. Es fehlt an gesellschaftlicher Wertschätzung und Akzeptanz. Nach wie vor gibt es eine klare Hierarchisierung zwischen den Olympischen Spielen und den Paralympics. Parasportler*innen empfinden sich nicht als gleichgestellt – es fehlt an Augenhöhe. Das hat mich persönlich sehr betroffen gemacht. Positiv fiel jedoch auf, dass sich Parasportler*innen als Teil der Gesellschaft fühlen. Sie sehen sich in erster Linie als Leistungssportler*innen und nicht vordergründig als Menschen mit Beeinträchtigung, die Sport treiben.
Die erhobenen Daten spiegeln deutlich den Stand der Inklusion in unserer Gesellschaft wider.
Die Außenperspektive betrifft den Blick der Bevölkerung. Interessant ist, wie positiv die Paralympischen Spiele wahrgenommen werden. Das Verfolgen der Wettkämpfe im Fernsehen trägt dazu bei, Parasportler*innen als Vorbilder zu sehen. Ihre Leistungen werden anerkannt. Allerdings ist die Einschätzung der Bevölkerung oft zu optimistisch. Viele unterschätzen die tatsächlichen Herausforderungen, mit denen Menschen mit Beeinträchtigungen konfrontiert sind. Die Notwendigkeit einer umfassenden gesellschaftlichen Inklusion ist noch nicht ausreichend erkannt. Das finde ich alarmierend, vor allem wenn man bedenkt, dass die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) in Deutschland bereits seit 15 Jahren ratifiziert ist.
Bezogen auf die Teilhabe-Community, also Menschen mit Beeinträchtigungen, zeigte sich ein anderes Bild: Sie fühlen sich nicht als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft. Das unterscheidet sie stark von den Para-Athlet*innen, die sich ihrer privilegierten Stellung sehr bewusst sind.
Prof. Dr. Sina Eghbalpour
Prof. Dr. Sina Eghbalpour ist Professorin für Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit mit den Schwerpunkten Inklusion & Sport an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen. Neben ihrer akademischen Tätigkeit engagiert sie sich in Projekten zur Förderung inklusiver Strukturen im Sport und in der Gesellschaft. Prof. Dr. Sina Eghbalpour ist zudem Mitglied im Kuratorium der Aktion Mensch. Sie lebt mit Osteogenesis imperfecta (Glasknochenkrankheit).
Welche Erkenntnisse konnten Sie in Bezug auf das Potenzial von Sport für Inklusion gewinnen?
Mehr als zwei Drittel der Befragten aus der Bevölkerung und der Teilhabe-Community sind der Meinung, dass die Paralympischen Spiele einen positiven Einfluss auf die Inklusion im Sport haben. Ich denke jedoch, hier muss man differenzieren. Die Paralympics sind Hochleistungssport und sehr exklusiv. Der Weg dorthin ist lang und hart. Das hat wenig mit der Frage zu tun, wie Inklusion im Breitensport gelingen kann.
Dennoch haben die Paralympics eine große Wirkung auf die gesellschaftliche Inklusion, da sie aufklären und zeigen, was möglich ist. Sport verbindet Menschen. Wir können uns mit Athlet*innen identifizieren, mitfiebern und ihre Leistungen anerkennen. Insgesamt haben die Paralympics also einen wichtigen Wahrnehmungseffekt.
Für den Breitensport ergeben sich jedoch andere Herausforderungen.
Die Paralympics haben eine große Wirkung auf die gesellschaftliche Inklusion, da sie aufklären und zeigen, was möglich ist.
Welche Handlungsempfehlungen würden Sie hier geben?
Sport schafft vielfältige Begegnungsmöglichkeiten. Der inklusive Gedanke, den wir in der Gesellschaft dringend brauchen, lässt sich im Sport besonders gut umsetzen. Hier kann Inklusion spielerisch und niederschwellig gelingen.
Deshalb appelliere ich an die Politik, finanzielle Mittel bereitzustellen und die Nachwuchsförderung voranzutreiben. Wir müssen die Hierarchisierung zwischen Sportler*innen mit und ohne Beeinträchtigung überwinden und echte Gleichbehandlung erreichen.
Dafür brauchen wir:
- Mehr Aus- und Fortbildungen für Trainer*innen und Übungsleitungen, damit sie sich zutrauen, inklusive und niederschwellige Angebote zu schaffen.
- Vollumfänglich barrierefreie Sportstätten. Das ist der zentrale Punkt und eine wesentliche politische Forderung.
- Neue Stellen in Stadt- und Kreissportbünden. Menschen mit Beeinträchtigung sollten auf Verbandsebene beratend tätig sein und als Sportinklusionsmanager*innen fungieren. Ich selbst habe eine solche Stelle innegehabt und halte sie für essenziell.
- Andere Sponsorenstrukturen. Es ist für Parasportler*innen viel schwerer, Sponsoren zu gewinnen als für Olympioniken. Auch der Breitensport braucht mehr finanzielle Unterstützung.
Welche Rolle spielen Medien in Bezug auf Inklusion?
Bei den Olympischen Spielen gibt es täglich viele Stunden Live-Berichterstattung. Die Paralympischen Spiele werden dagegen oft nur in Zusammenfassungen gezeigt. Die Berichterstattung hat sich in den letzten Jahren hinsichtlich Quantität und Qualität zwar positiv entwickelt, ist aber noch lange nicht gleichwertig. Auch wenn sich also bereits Fortschritte zeigen: Es braucht mehr Berichterstattung und eine stärkere Einbindung von Menschen mit Beeinträchtigung in verschiedene journalistische Formate.
Wie könnten sich die Paralympics weiterentwickeln, um Inklusion im Sport voranzutreiben?
Da es logistisch kaum möglich ist, die Olympischen und die Paralympischen Spiele zusammenzulegen, würde ich mir zumindest eine gemeinsame Eröffnungs- und Abschlussfeier wünschen. Das würde beide Veranstaltungen anders rahmen und den Inklusionsgedanken stärken.
Welche wichtige Botschaft enthält Ihre Untersuchung außerdem?
Unsere Untersuchung zeigt, dass der Leistungssport das subjektive Wohlbefinden der Para-Athlet*innen fördert und ihre Beeinträchtigung in den Hintergrund rücken lässt. Aber Sport hat nicht nur im Hochleistungsbereich eine große Bedeutung. Er schafft Begegnungen und hilft Menschen, Krisen zu bewältigen. Wenn jemand nach einem Unfall wieder Sport treibt, kann das helfen, die eigene Geschichte zu verarbeiten, Anerkennung zu finden und neue Visionen für das eigene Leben zu entwickeln. Genau das fasziniert mich am Sport.